Die Errichtung eines Gedenksteins für die homosexuellen Opfer des KZ Dachau – der „Rosa Winkel Gedenkstein“ war eines der konfliktreichsten Kapitel der Geschichte der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die Auseinandersetzungen verliefen über 10 Jahre von 1985 bis 1995.
Im Kampf um Anerkennung des Gedenkens an eine bis dahin aus dem Erinnerungsdiskurs ausgeschlossene Gruppe hatten sich Konfliktlinien zwischen den etablierten Verbänden der Überlebenden, politischen Handlungsträgern, der schwul-lesbischen Community, der konservativen Staatsregierung und der Gedenkstättenleitung aufgetan. Eine Versöhnung war erst möglich durch das unkonventionelle und Gräben überschreitende Eingreifen einzelner Personen.
Sexuelle Handlungen zwischen Männern waren seit jeher verachtet, verfolgt und mit dem Tod bedroht. Für lange Zeit galt das auch für sexuelle Handlungen zwischen Frauen. Mit der Einführung des § 175 in das Strafrecht des Zweiten Deutschen Reiches im Jahr 1872 galt ein Totalverbot von sogenannter „Unzucht zwischen Männern“. Alle, auch einvernehmliche Handlungen, wurden mit Geld-, Gefängnis- oder Zuchthausstrafen geahndet. Hinzu kam eine gesellschaftliche Ächtung, die viele Männer zu Opfern von Erpressung machte, die beruflich wie familiär zu schweren Zerwürfnissen führte und die betroffene Personen zum Wegzug oder zur Emigration zwang oder in manchen Fällen zum Selbstmord führte.
Die staatlichen Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen verschärfte die NS-Diktatur erheblich. Die willkürliche Einweisung von homosexuellen Männern in Gefängnisse oder Konzentrationslager ohne richterlichen Beschluss sondern aufgrund eines Schutzhaftbefehls begann bereits 1933. Wenig später wurde der § 175 verschärft und alle Hürden, die die Polizei bislang daran hinderten, großflächig Verfolgung aufzunehmen, fielen. Die Verfolgungszahlen stiegen in den folgenden Jahren um das Zehnfache. Es wird geschätzt, dass 140.000 Männer aufgrund des Vorwurfs der „widernatürlichen Unzucht“ zwischen 1872 und 1994 verfolgt und verurteilt wurden, davon allein etwa 70.000 während der NS-Diktatur.
Die im KZ geltende Rechtlosigkeit bedrohte alle Verfolgten. Das System folgte dem Grundsatz der Entindividualisierung und Entsolidarisierung, Menschen galten fortan nur noch als Häftlingsnummer und wurden durch farbige Winkel nach Stereotypen klassifiziert und enthumanisiert. Homosexuelle mussten in der Regel den rosa Winkel auf der Häftlingskleidung tragen. Sie waren damit offensichtlich und schutzlos und sie waren den Vorurteilen der SS und der Mithäftlinge und der im Lager herrschenden Gewalt ausgeliefert. Ausbleibende Solidarität unter den Gefangenen verringerte die Überlebenschancen der Inhaftierten erheblich. Die Todesrate der mit dem rosa Winkel Gekennzeichneten wird auf über 50% geschätzt, sie liegt für das KZ Dachau etwas niedriger.
Als Beispiel der im KZ herrschenden und durch die brutalen Lagerbedingungen verschärften Umgangsweisen, sei die Aussage eines politischen Dachau-Gefangenen angeführt:
„Die Homosexualität als reine Perversität hat es im Lager schon immer gegeben, befindet sich doch nicht nur in dem das Lager umgebenden SS-Übungslager, sondern zum Teil auch im Konzentrationslager selbst der Abschaum der Menschheit, dem alle Perversitäten geläufig sind.“
So äußerte sich der aus Gelsenkirchen stammende Kommunist Walter Ferber im Januar 1943 bei der Desertierten-Einvernahme gegenüber den Schweizer Behörden, nachdem er bis Oktober 1942 im KZ Dachau inhaftiert war und zum Militärdienst entlassen wurde, aus dem ihm sehr schnell die Flucht über die Schweizer Grenze gelang. Ferber – und mit ihm zahlreiche andere Verfasser von persönlicher Erinnerungsliteratur – lastete es den von der SS geförderten dominanten Kräften im Machtsystem des Konzentrationslagers an, mit ihrer Sogwirkung eine Zersetzung der ethischen Grundsätze innerhalb der KZ-Gesellschaft auszulösen.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft betrieb äußerst intensiv Verdrängung und distanzierte sich von den „dunklen“ zwölf Jahren. Gleichzeitig verinnerlichte sie Leitbilder der NS-Diktatur und die gesellschaftlichen Aufbrüche der 1920er Jahre gerieten für weitere zwei Jahrzehnte der Adenauer-Zeit in Vergessenheit. Das, was Schwule und Lesben sich in den 1920er Jahren an gesellschaftlicher Akzeptanz erobert hatten, war bis 1970 verloren. Der Weg zur Gleichstellung der Frauen war erstmal verbaut, Ansätze zur Straffreiheit von Homosexualität unter Männern blieben tabu. Der §175 existierte in seiner in der NS-Zeit verschärften Form bis 1969 weiter. Ein Gedenken an die Opfer dieses Paragrafen war solange undenkbar, als die Gruppe weiterhin mit aller Schärfe des Gesetzes verfolgt wurde. Eine Entschädigung kam nicht in Frage, da – so wurde argumentiert – der Paragraf bereits vor 1933 existierte und es sich somit nicht um originär nationalsozialistisches Unrecht handelte. Betroffene wagten es nicht, sich zu Wort zu melden.
Die (vor allem politischen) Überlebenden der Konzentrationslager kämpften um ein Gedenken, das der deutschen Bevölkerung dauerhaft vor Augen führen sollte, wovor sie zwölf Jahre lang die Augen verschlossen gehalten hatte. Dieses Gedenken sollte moralisch grundiert sein und einen Läuterungsweg darstellen. So ist auch heute noch das Internationale Mahnmal zu lesen, das auf dem früheren Appellplatz in der KZ-Gedenkstätte Dachau steht. Der Schwur „Nie wieder“ galt für politische, rassische und religiöse Verfolgung. Gesellschaftliche Außenseiter bliebe jedoch gesellschaftliche Außenseiter und etliche andere Gruppen wie etwa Homosexuelle hatten im Gedenkkanon keinen Platz. So lautete letztlich die Begründung des Comité International de Dachau (CID) für die Ablehnung der Anbringung eines symbolischen rosa Winkels am Internationalen Mahnmal (1968). Er fehlt bis heute – und das ist heute für die Referenten und Referentinnen der Gedenkstätte Anlass, die Besucher auf die Leerstelle (das ist sie im wahrsten Sinne des Wortes, denn das bereits von der Künstlerin installierte Metalldreieck blieb leer) hinzuweisen.
Seit den 1980er Jahren nahm langsam auch die neu etablierte homosexuelle Szene Kenntnis von dieser Situation und begann die einstmalige Ausgrenzung umzuwandeln. Aus „schwule Sau“ wurde „schwuler Stolz“ und der rosa Winkel wurde in ein Symbol verwandelt, mit dem einem reformunwilligen Staat vor Augen geführt wurde, dass der § 175 immer noch existierte und gesellschaftliche Ausgrenzung immer noch funktionierte. Sticker, Plakate, Transparente aus den 1980er und 1990er Jahren zeigen deutlich eine Dominanz des Rosa-Winkel-Symbols, der dann später von der Regenbogenflagge abgelöst wurde. Der Kampf um die Aufstellung eines Rosa-Winkel-Gedenksteins verlief in keiner anderen Gedenkstätte als in Dachau so heftig und so langwierig.
Nach dem Vorbild der österreichischen Schwulengruppen, die 1984 in Mauthausen einen Stein mit der Inschrift „Totgeschlagen – totgeschwiegen“ aufstellten, wollten Münchner Schwulengruppen und einzelne Lesben das auch in Dachau verwirklichen. Auslöser war eine erste Ausstellung zur Geschichte der Homosexuellenverfolgung, die in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Ende 1984 stattfand. Die Verhandlungen der Aktivisten mit dem CID nahmen jedoch einen stockenden und schließlich unerfreulichen Verlauf, da das Thema auf den Versammlungen des CID immer wieder vertagt wurde. Der Unwille, sich damit zu beschäftigen, war deutlich herauszulesen. Die Vorkämpfer für ein angemessenes Gedenken versuchten mit Petitionen und politischer Lobbyarbeit ihrem Ziel näher zu kommen. Als nach zwei Jahren noch kein Ergebnis erkennbar war, wurde in Absprache mit den Grundbesitzern der bereits längst bestellte Rosa-Winkel-Gedenkstein vor der Evangelischen Versöhnungskirche aufgestellt.
Für die Stein-Befürworter war das nur eine Notlösung, denn es stellte kein Gedenken auf Augenhöhe dar. Der Stein sollte vielmehr im Museum der Gedenkstätte zu sehen sein, dort, wo auch an alle anderen Opfer erinnert wurde und wo eine Erwähnung der Homosexuellen bis dahin völlig fehlte. Die Dominanz der Ausgrenzung und Zweitklassigkeit war erkennbar – was übrigens nicht an der Leitung der Gedenkstätte lag sondern aufgrund der Entscheidung des CID zustande kam. So entschloss man sich, ab 1987 mit massivem Einsatz von Transparenten auf den gut besuchten Befreiungsfeiern zu zeigen, dass dieser Zustand unhaltbar ist. „Wer die Verbrechen der Nazis an den Homosexuellen totschweigt, billigt sie letztlich“ war unter anderem dort zu lesen. Es war einer der massivsten Störungen, die die Gedenkstätte in ihrer Gedenkarbeit erlebte – nur übertroffen von der Geländebesetzung und dem Hungerstreik von Sinti und Roma, die aus ähnlichen Motiven handelten. Homosexuelle Aktivisten, die mit ihrem Protest den Unwillen mancher Überlebender erregten, waren sich dessen bewusst, dass sie mit ihrer Aktion eventuell deren Gefühle verletzen würden. Aber sie hielten die Konfrontation aufrecht, zum einen, weil sie daran glaubten, durch Überzeugungsarbeit ein Umdenken herbeiführen zu können und zum anderen, weil die bei den Feiern anwesenden politischen Repräsentanten gestört und aufmerksam gemacht werden konnten. Es gab 1992 einen Kompromiss: keine weiteren Protestbanner dafür Nennung der Homosexuellenvertretung bei der Verlesung der Kranzspender – das ist ein zentraler Teil der jährlichen Gedenkzeremonie.
Erst im Jahr 1995 trat eine Wandlung ein, die mehr durch Zufall als durch Planung eintrat. Der auf einer CID-Versammlung verhinderte Präsident wurde durch einen in der Sache Rosa-Winkel-Gedenkstein nicht informierten Stellvertreter ersetzt. Diese Situation nutzte der Vorsitzende der Dachauer Lagergemeinschaft aus – der jüdische Überlebende Max Mannheimer, der einer Aufstellung des Rosa-Winkel-Gedenksteins im Museum noch nie etwas entgegenzusetzen hatte. Mannheimer überredete den Stellvertreter, dem Gesuch der Schwulengruppen positiv gegenüber zu stehen und dem Umzug des Gedenksteins von der Evangelischen Versöhnungskirche ins Museum nicht im Wege zu stehen. Im Juni 1995 wurde das Hinübertragen des Steins von zahlreichen Vertretern und Vertreterinnen der Community feierlich begangen und war starker politischer Ausdruck während der CSD-Woche. Das CID unternahm später keinen Versuch, diesen Zustand zu revidieren. Vielleicht, weil die Überlebenden zu alt und überdrüssig waren, um 50 Jahre nach der Befreiung diesen Streit fortzusetzen. Wenige Jahre später übernahm die Generation der Kinder der ehemaligen Häftlinge die politische Verantwortung und Präsidentschaft im CID (der stark von westeuropäischen Staaten geprägt ist). Für sie war der Umgang mit dem Gedenken an die Homosexuellenverfolgung kein Problem mehr.
Text von Albert Knoll, verfasst anläßlich der Gesprächsreihe Infrastructures, des Kunstvereins München, Juli + August 2020. Siehe auch: „Der Rosa-Winkel-Gedenkstein“, Forum Splitter Nr. 13