„Ich habe immer alles in mir, das Männliche, das Weibliche und alles, was dazwischen ist.“

Dieter Rita Scholl wurde am 7. Oktober 1952 in Freiburg im Breisgau geboren. Er ist Schauspieler*in, Autor*in und Chansonsänger*in, Regisseur*in, LGBTQ-Aktivistin, Feminist*in und Vorreiter*in der queeren Performancekunst.
Nach dem Abitur in Freiburg studierte Scholl 1971 Sozialpädagogik in Tübingen. Nach seinem Abschluss 1976 zog es ihn nach Kiel, wo er in einer alternativen Teestube arbeitete. Während seiner Studienzeit stieß er auf die schwule Theatergruppe „Brühwarm“, die er in der Mensa seiner Universität auftreten sah. Er fing sofort Feuer für deren provokative, schrille Performances. Nach dem Besuch des gleichnamigen Balls „Brühwarm“ 1977 in Hamburg zog er ein Jahr später selbst an die Alster in eine schwule WG.
1979 war Dieter Rita Scholl Teil des Gründerkollektivs des politischen und ersten offenen schwulen Café-Projekts „Tuc Tuc“ in Hamburg, das erstmals ohne Klingel und abgedunkelte Fenster auskam. Seine Selbstpräsentation am Eröffnungsabend im Fummel als „Rita Bastardo“, in Anlehnung an die Hollywood-Diva Rita Hayworth und die Tänzerin Rita Moreno, erlebte er als sein Coming-out. Mit Claus Plänkers, der nach dem Aus von „Brühwarm“ auf der Suche nach einem*r neuen Bühnenpartnerin war, tourte Scholl 1979 und 1980 mit der selbstgeschriebenen queeren Musikshow „Sex? Vergiß’ es! Rita + Claus“ durch BRD und Schweiz.
1979 war Scholl neben Corny Littmann und Danny Lewis eine*r der vier Hautdarstellerinnen in Brigitte Schroedters TV-Doku „Leben wir unser Leben – Schwule und ihre Lieder“. Das Porträt über die autonome Theatergruppe „Brühwarm“ und deren Nachfolgerin „Rita + Claus“ war eine für die damalige Zeit gewagte Dokumentation, die eine wichtige Phase im Selbstfindungsprozess junger Schwuler zeigte
In Erwin Spinger fanden Scholl und Plänkers einen Pianisten, um mit einem komplett eigenen Liveprogramm auf der Bühne zu stehen. Mit Ernie Reinhardt, der in den 1990ern als Lilo Wanders zum Fernsehstar avancierte, gründeten sie zu viert 1981 die freie schwule Theatergruppe „Transitiv“, tourten mit Sartres „Bei geschlossenen Türen“ und der queeren Revue „Just a Gigolo“ durch BRD und Schweiz und begeisterten/erreichten mit bis zu 400 Zuschauern mehr und mehr das Hetero-Publikum.
1982, zur Abschiedstournee von „Transitiv“, wurden „Rita + Claus“ von Marianne Sägebrecht ins Münchner Hinterhoftheater eingeladen. Sägebrechts Nähe zu queeren Künstlern, Scholls Rückbesinnung auf seine südlichen Wurzeln und das Angebot, in eine Villa miteinzuziehen, führten zu seinem Umzug nach München. Scholl begann in der heute legendären Avantgarde-Disco „Tanzlokal Größenwahn“, damals ein Sammelbecken queerer Künstler wie Rainer Werner Fassbinder und Klaus Nomi, mitzuarbeiten. In diesem neuen kreativen Lebensumfeld entstand das von Scholl in einer Doppelrolle besetzte Solo-Theaterstück „Diva – zwischen zwei Stühlen“, das 1983 im Werkstattkino Premiere feierte und anschließend am Modernen Theater in München aufgeführt wurde.
Im Bayerischen Rundfunk, in der Jugendsendung „Live aus dem Alabama“, stellte sich Scholl 1984 offen und selbstbewusst den direkten Fragen des Moderatorenteams und Publikums zum seinerzeit noch tabuisierten Thema der Geschlechteridentität und leistete dabei Pionierarbeit. Daneben erhielt Scholl erste Fernsehrollen und spielte etwa in dem Krimi-Melodram „Rosamunde“ (1988/89) von Egon Günther an der Seite von Manfred Krug und Jürgen Vogel einen im Travestie-Milieu ermittelnden Polizisten in Frauenkleidern, damals ein Novum im deutschen Film. Seine Theaterarbeit setzte Scholl am Berliner Theater S-Bahnhof Westend fort, wo er in „Ereignismaschine: Preußischer Totentanz“ als Chansonette auf der Bühne stand.
1991 spielte er an der Seite von Glenn Close in „Zauber der Venus“ von István Szabó und war in den Folgejahren in freien Theatergruppen beschäftigt. 1995 fand er auf der „ufa-Fabrik“ mit „Frauen schlafen nie“ seinen Einstieg in die stetig wachsende kulturelle Trans- und Tunten-Community Berlins. Auch in Fernsehproduktionen wie „Hagedorns Tochter“ (1994), „Der Schattenmann“ (1996), „Hinter Gittern – Der Frauenknast“ (1998) oder „Babylon Berlin“ (2017) wurde Scholl über Jahre hinweg besetzt, weil er ein breites Spektrum zwischen Mann und Frau abdecken kann.
2004 stand Scholl erstmals mit einem Chansonprogramm auf der Bühne. „Ich bin, was du vergessen hast“, eine musikalische Hommage an die Stummfilmzeit, feierte im Sonntagsclub Berlin Premiere. 2009 würdigte Scholl in seiner Hommage „Dalida barfuß“ die Sängerin und Schauspielerin auf den Berliner Bühnen. Mit seinen Chansonprogrammen war er deutschlandweit auf Tour.
Den Kurzfilm „Cold Star“ von Kai Stänicke (2011), eine musikalische Parabel über das Finden und Akzeptieren der eigenen sexuellen Identität mit Scholl in der Hauptrolle, erschloss Scholl neue Perspektiven und eine junge Zielgruppe: 2015 bis 2019 besetzte ihn die queere Regisseurin Simone Jaikiriuma Paetau für das schrille Performance-Theater „Gritty Glamour“ im Ballhaus Naunynstraße.
2018 öffnete Dieter Rita Scholl in der AHA e.V. Berlin in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum sein queeres Archiv und präsentierte mit „Die Legende von Dieter und Rita (West)“ auf der Leinwand bewegte und bewegende biografische Bilder und Zeitdokumente seiner künstlerischen Entwicklung von 1979 bis 2013. 2019 war Scholl in der Berliner Volksbühne in „Coming Society“ sowie in „Legende“ von Ronald M. Schernikau zu sehen.
Durch offenes Auftreten in changierenden Geschlechterrollen seit den 1970er Jahren, Beteiligung an politischen Aktionen und facettenreiches künstlerisches Wirken setzte Scholl ein frühes Zeichen für Toleranz, lang bevor Genderdiskussionen in den Medien thematisiert oder von der Gesellschaft überhaupt wahrgenommen wurden. Er trug prägend zum Entstehen einer queeren Performance-Kultur bei. Dieter Rita Scholl gilt als Vorkämpfer*in für ein tolerantes selbstbestimmtes Leben schon zu Lebzeiten als queere Ikone.
Von Norbert Wagner